Wenn der Körper Nein sagt

Wie verborgener Stress krank macht - und was Sie dagegen tun können, so der Untertitel des Buches.

Als ich diesen Titel zum ersten Mal las, weckte er sofort mein Interesse. Wer sich intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Körper und Psyche und dementsprechend mit einem möglichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Psyche befasst, der horcht hier auf. Mit den Büchern von Rüdiger Dahlke und Christiane Beerlandt im Hinterkopf war ich ungemein gespannt auf die Sichtweise von Dr. Gabor Maté, einem kanadischen Hausarzt und Palliativmediziner, Autor und Kolumnist. Inwiefern würde sich seine Sichtweise von der anderer Autoren unterscheiden? Oder stimmten sie etwa überein?

Nun, weder das eine noch das andere ist der Fall. Ich würde sagen, dieser Buchtitel ist eine Ergänzung, weil Dr. Gabor Maté eine zusätzliche Perspektive einnimmt, die der Wissenschaft. Der Autor konzentriert sich auf einige bestimmte Erkrankungen wie Sklerodermie, ALS, Multiple Sklerose oder Krebs. Das Buch ist also kein Nachschlagewerk im herkömmlichen Sinne, bei dem der Leser im alphabetischen Register eine Krankheit sucht und die Stressursache nachlesen kann.

Dr. Maté arbeitet mit liebevoll beschriebenen Fallbeispielen, welche die Krankheit für den Leser sehr gut verständlich machen in all ihren Auswirkungen. Besonders aufgefallen ist mir das Mitgefühl, mit dem Dr. Maté diese Fallgeschichten erzählt. Diese Beispiele sind verknüpft mit wissenschaftlichen Aussagen, mit Studienergebnissen und mit den eigenen Erkenntnissen des Autors. Es schien mir manches Mal, als hätten sich letztere beim Schreiben des Buches selbst ergeben, so tief lässt Dr. Maté seine LeserInnen an seinen Gedanken teilhaben.

Obwohl es um schwere Erkrankungen geht und ich keine Medizinerin bin, fiel es mir sehr leicht, den medizinischen und wissenschaftlichen Erklärungen zu folgen. Dr. Maté schafft es ohne Mühe, fachlich komplexe Zusammenhänge klar und verständlich zu formulieren, was mich mit jedem Kapitel neugieriger machte, weiterzulesen.

Dr. Maté wirkt auf mich als bodenständiger und pragmatischer Mediziner, der - entgegen der immer noch vorherrschenden Meinung - einen Zusammenhang zwischen Körper, Krankheit und Psyche erkennt. Gut, es gibt die sogenannten "Holy Seven" nach Franz Alexander, der bei sieben Erkrankungen (Magengeschwür, Zwölffingerdarmgeschwür, Bronchialasthma, chronische Polyarthritis, Neurodermitis, Bluthochdruck, Schilddrüsenüberfunktion und Colitis ulcerosa/Morbus Crohn) bestimmte psychische Konflikte annahm und glaubte, jeweils typische Kennzeichen für einen ganz bestimmten Persönlichkeitstyp für jede der Krankheiten erkannt zu haben. Heute werden diese Erkrankungen der "Psychosomatik", also der Wechselwirkung von Psyche und Körper, zugeordnet. Doch an diesem Punkt hört es in der Medizin meistens auf. 

Dr. Maté hingegen zeigt auf, dass weitere Krankheiten einen psychischen Hintergrund besitzen, also auf einem inneren, unbewussten Konflikt beruhen. Er nennt als Ursache "Stress", ein Wort, mit dem wir sicher alle etwas anfangen können, doch die Fallbeispiele machen sehr deutlich, wie tief dieser Stress gehen kann, wenn wir uns nicht gesehen und nicht geliebt fühlen, wenn wir bereits als Kind mit Zurückweisung, Vernachlässigung, Missbrauch o.ä. konfrontiert wurden und nicht die Möglichkeit hatten, dies zu verarbeiten und aufzulösen. Das Wort "Stress" bedeutet in diesem Buch nicht "keine Zeit, zu viel zu tun, Sorgen", sondern Stress für die Psyche, der sich über Jahre und Jahrzehnte im Körper ansammelt und irgendwann zu einem körperlichen Symptom bzw. einer Erkrankung führen kann.

Aus meiner Sicht ist dieses Buch wichtig und sehr hilfreich sowohl für Menschen mit entsprechenden Erkrankungen, als auch für Mediziner, die den Mut besitzen, ihren Blick über den Tellerrand schweifen zu lassen. Die Verbindung von Körper und Psyche ist - eigentlich - unübersehbar, wenn man genau hinschaut. Und es ist möglich, wie das Buch zeigt, dies auf eine sachliche, fundierte, ja wissenschaftliche Art und Weise zu tun, weitab von jeder Esoterik. Es mag sein, dass es noch einige Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, bis diese Zusammenhänge wirklich gesehen und verstanden werden können als ein Wissen, das selbstverständlich zur Ausbildung von Medizinstudenten gehört. Daher begrüße ich das Buch von Dr. Maté als wichtigen Schritt zu einer neuen Sicht auf den Menschen als Einheit von Körper, Geist, Psyche und Seele.